Wir haben noch einen langen Weg vor uns

Julián Carrón

Sehr geehrter Herr Chefredakteur,

als ich dieser Tage die Zeitungen las, hat es mich tief geschmerzt zu sehen, was wir aus der uns geschenkten Gnade gemacht haben. Wenn die Bewegung Comunione e Liberazione ständig mit dem Anreiz von Macht, Geld und einem bestimmten Lebensstil identifiziert wird, der nichts mit dem gemein hat, dem wir begegnet sind, dann müssen wir hierfür einen Vorwand geboten haben.

Und dies, obgleich die Bewegung keinerlei Veruntreuung begangen und nie ein „Machtsystem“ errichtet hat. Dabei sollte auch nicht ins Gewicht fallen, dass es zur recht befremdlich wirkt, wie diese Nachrichten in Umlauf kommen. Denn die von der Verfassung verbürgten Rechte und Verfahren werden dabei einfachhin verletzt – auch wenn dies inzwischen allgemein als selbstverständlich hingenommen wird.

Die Begegnung mit Don Giussani hat uns die Möglichkeit eröffnet, das Christentum als ebenso anziehende wie wünschenswerte Wirklichkeit neu zu entdecken. Deshalb ist es demütigend festzustellen, dass die Faszination des Anfangs für uns manchmal nicht ausgereicht hat, um uns von der Versuchung eines rein menschlichen Erfolgs frei zu machen. Wir glaubten, dass die ursprüngliche Anziehungskraft allein ausreichen würde, ohne uns um eine wirkliche Nachfolge zu bemühen. Über die Konsequenzen dieser Anmaßung sind wir bestürzt.

Don Giussani hat bis zu seinem Tod bezeugt, was das Leben sein kann, wenn es von Christus ergriffen wird. Dies zeigt uns, dass es dem christlichen Vorschlag an nichts fehlt. Viele, die ihn kannten, bekräftigen das, was wir in einem mehr oder weniger engen Zusammenleben mit ihm erfahren konnten: Seine Person war erfüllt von der Gegenwart Christi. Aus dieser Überzeugung heraus haben wir um die Eröffnung eines Seligsprechungsverfahrens für ihn gebeten.

Dabei sind wir uns gewiss, dass Don Giussani für die Kirche angesichts der heutigen Herausforderungen einen großen Wert darstellt. Wir bitten um Verzeihung, wenn wir mit unserer Oberflächlichkeit und unserer unzulänglichen Nachfolge dem Andenken von Don Giussani geschadet haben. Nun muss die Justiz feststellen, ob die Fehler einzelner auch Gesetzesverstöße darstellen. Andererseits kann jeder für sich beurteilen, inwieweit wir trotz aller Fehler einen Beitrag zum Gemeinwohl geleistet haben.

Wenn ein Glied leidet, leidet der ganze Leib, hat uns der heilige Paulus gelehrt. Wir sind Glieder des Leibes von Comunione e Liberazione. Wir leiden mit denen, die nun am Pranger der Medien stehen, im Bewusstsein unserer eigenen Schwäche und dass wir ihnen nicht hinreichend Zeugnis gegeben haben. Das macht uns noch deutlicher, wie sehr wir der Barmherzigkeit Christi bedürfen.

Mit derselben Aufrichtigkeit, mit der wir unsere Fehler zugeben, müssen wir auch bekennen, dass wir uns die Begegnung, die uns verwandelt hat, nicht mehr aus dem Herzen reißen können. Unser ganzes Versagen, und das unserer Freunde, kann die Leidenschaft für Christus nicht ausradieren, die die Begegnung mit dem Charisma von Don Giussani uns eingepflanzt hat.

Er hat uns eine Leidenschaft für das Leben vermittelt, die so groß ist, dass keine Begrenztheit sie auslöschen kann. Sie erlaubt uns auch, unser ganzes Versagen in den Blick zu nehmen, ohne es legitimieren oder rechtfertigen zu wollen.

Das Ereignis Christi hat uns so machtvoll geprägt, dass wir nach jedem Fehler immer wieder von neuem beginnen können, in noch tieferer Demut und mit einem größeren Bewusstsein unserer Schwäche. Wie das Volk Israel kann uns alles genommen werden, wir können ins Exil geschickt werden, aber Christus, der uns an sich gezogen hat, bleibt für immer. Er wird durch unsere Niederlagen nicht besiegt. Wie die Israeliten müssen wir lernen, dass wir nicht in der Lage sind, uns aus eigener Kraft zu retten. Wir müssen das wieder neu verstehen, was wir bereits zu wissen glaubten. Aber niemand kann uns die Gewissheit rauben, dass die Barmherzigkeit Gottes ewig währt. Wie oft waren wir zutiefst bewegt, wenn Don Giussani vom „Ja“ des Petrus nach dessen Verrat sprach ...

Deshalb können wir die Geschehnisse nicht anders verstehen als kraftvollen Aufruf zur Läuterung und zur Umkehr zu Dem, Der uns ergriffen hat. Er selbst, Seine Gegenwart klopft unablässig an die Tür unserer Vergesslichkeit und Zerstreuung und erweckt in uns noch mehr den Wunsch, die Seinen zu sein. Hoffen wir, dass der Herr uns die Gnade schenkt, mit einfachem Herzen auf Seinen Ruf zu antworten. Auf diese Weise bezeugen wir am besten, dass die Gnade, die Don Giussani geschenkt wurde, wesentlich größer ist, als wir, seine Kinder, es zeigen können.

Nur so werden wir eine neue Präsenz in der Welt sein, wie das bereits viele von uns am Arbeitsplatz, in der Universität, im gesellschaftlichen und politischen Leben oder im Freundeskreis bezeugen. Sie tun dies aus dem Wunsch heraus, dass der Glaube nicht auf die Privatsphäre verkürzt wird. Wer uns begegnet ist, weiß das. Viele sind so betroffen, dass sie den Wunsch verspüren, an dem teilzuhaben, was uns geschenkt wurde. Deshalb müssen wir unablässig anerkennen, dass „Präsenz“ nicht Synonym für Macht und Vorherrschaft ist. „Präsenz“ heißt Zeugnis für eine neue Menschlichkeit abzulegen, die aus der „Macht“ Christi hervorgeht, um auf die unerschöpflichen Bedürfnisse des menschlichen Herzens zu antworten. Wir müssen bekennen, dass das, was die Geschichte verändert, auch das Herz des Menschen verändert, wie jeder von uns aus eigener Erfahrung weiß. Diese Neuheit können wir nur dann leben und bezeugen, wenn wir uns in die Nachfolge von Don Giussani begeben und den Glauben in der Erfahrung verifizieren. Giussani war zutiefst überzeugt davon, dass der Glaube nur dann bestehen kann, wenn er eine lebendige Erfahrung ist und durch seine Nützlichkeit für das Leben in der Welt seine Bestätigung findet – auch wenn in dieser Welt alles das Gegenteil behauptet.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns und sind froh, dass wir ihn gehen dürfen.

Der Autor ist Präsident der Fraternität von Comunione e Liberazione.